Das Grab des Obristen

Von Dietrich Alsdorf


Im Zuge archäologischer Freilegungsarbeiten im Bereich der ehemaligen Stiftskirche und Grablege der Harsefelder/Stader Grafen in unmittelbarer Nähe der heutigen Gemeindekirche mussten 1992 geringe Teile des bis 1832 genutzten Gemeindekirchhofs zugunsten eines Niveauausgleichs abgetragen werden.
Da überliefert war, dass sich in dem von der Maßnahme betroffenen Teil des ehemaligen Kirchhofs einst das „Amts-Begräbnis“ des im 18. Jahrhundert am Ort befindlichen „Amtes Harsefeld“ befand, wurden die Abtragungsarbeiten in dem von altem Baumbestand durchwurzelten Erdreich, die von einem Bagger durchgeführt wurden, besonders sorgfältig überwacht.

Die Grabungsfläche westlich des Kirchturms mit der zufällig entdeckten Gruft vorne rechts im Bild.


Schnell stellte es sich heraus, dass der Bereich bereits im 19. Jahrhundert um rund einen Meter abgetragen worden war – die oberste Gräberschicht des seit rund 800 Jahren genutzten Kirchhofs lag direkt unter der Oberfläche! Die Ursache dieser Maßnahme war schnell erkannt: Für den Bau des neugotischen Kirchturms der Gemeindekirche im Jahre 1861 war das engere Umfeld planiert und später mit Wegen versehen worden. Aus dem alten Kirchhof wurde, dem Zeitgeist folgend, eine parkähnlich gestaltete Rasenfläche, später wie in anderen Dörfern ergänzt mit Luthereiche und Kriegerdenkmal.

Die freigelegte Gruft mit den beiden Stegen für den Sarg.

Als auf der Abtragungsfläche neben einer Vielzahl von gestörten Bestattungen und modernem Bauschutt ein rechteckiger, aus kleinformatigen Ziegeln gemauerter Schacht mit einem Innenmaß von 2,30 x 1,20 Meter auftrat, glaubte der Verfasser zunächst noch, eine zur ehemaligen Bauhütte des Turmes gehörende Anlage vor sich zu haben. Die Reste ähnlicher Behältnisse, noch mit Resten von Kalk, Sand und modernem Ziegelbruch waren zuvor bereits beobachtet worden. Bei der vorsichtigen Freilegung des Schachtes stellte es sich dann aber heraus, dass die Ost-West orientierte Anlage mit dem humosen Kirchhofsboden der Umgebung verfüllt war.

 

Das Tonnengewölbe war bei Auffindung komplett entfernt. Zurück blieben die geschmiedeten Gewölbestützen. In der Verfüllung lagen drei schmiedeeiserne Bögen eines nicht mehr vorhandenen Tonnengewölbes.

Als wenig tiefer Holzreste eines vergangenen Sarges sichtbar wurden, war klar, dass es sich bei dem Befund nur um den Rest einer Gruft – einem damals so genannten „ausgemauerten Begräbnis“ handeln konnte. Ein Teil des an dieser Stelle überlieferten „Amts-Begräbnisses“? Bekannt war, dass mehrere Amtmänner des damaligen Amtes hier beigesetzt wurden.
Die 1861 erfolgte Abtragung des Tonnengewölbes und Verfüllung mit dem umliegenden Humusboden machte zunächst nicht viel Hoffnung auf einen ungestörten Grabbefund.
Umso erstaunlicher war die Auffindung eines zwar schlecht erhaltenen, aber ungestörten Grabes! Die noch rund einen Meter tiefe Gruft besaß keinen Fußboden, lediglich eine dünne Schicht weißen Sandes bildete den Abschluss. Auf zwei aus Ziegel gebildeten Stegen wurden die Reste eines weitgehend vergangenen schmucklosen Eichensarges mit insgesamt 10 Eisengriffen (davon zwei für den Deckel) freigelegt.


Blick in die Gruft mit den Sarggriffen und den Uniformresten oben.

Auch der Bestattete war bis auf geringste Reste vollständig vergangen. Bekleidet war der männliche Tote einst mit einer Uniform, von der allerdings nur die lagerichtig vorgefundenen vergoldeten Knöpfe und wenige Stoffreste erhalten waren. Dem Befund nach bestand die Uniform aus Rock, Weste und Kniehose. Alle Knöpfe – Hornkernknöpfe mit einer Auflage aus vergoldetem Kupferblech - trugen die Zahl „14“.
Im Halsbereich wurde eine reich verzierte silberne Buntmetallschnalle gefunden, die zu einem wohl seidenen Halstuch gehörte. An der rechten Hand trug der Verstorbene einen schmucklosen, goldenen Ring mit der Innengravur „J.M.v.d.L. 1770.“

Der Verstorbene war bis auf die vergoldeten Knöpfe, einem goldenen Ehering und drei Schnallen vollständig vergangen.

Silberschnallen der Kniebundhose, verzierte Silberschnalle für ein Halstuch, zwei der gefundenen Uniformknöpfe.

Blick auf die Gravur des Eherings.

Wer war nun der Tote aus dem „Amts-Begräbnis“? Ein verstorbener Amtmann konnte es nicht sein. Funde und Befunde deuteten vielmehr auf das Grab eines hannoverschen Offiziers aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die „14“ wies eindeutig auf ein hannoversches Regiment. Denn erst ab 1783 wurden die Uniformknöpfe der hannoverschen Regimenter mit Nummern versehen. Es musste sich demnach um einen Offizier des „14. hannoverschen Infanterie Regiments“ handeln.
Von diesem Regiment ist überliefert, dass es 1781 - zunächst noch als Nr. 15 - aufgestellt und im Herbst des Jahres von Stade aus über England Richtung Ostindien verschifft wurde und dort fortan im Dienste der englischen Krone kämpfte.
Doch wer war dieser Offizier, dem in Harsefeld, rund 25 Kilometer südlich der ehemaligen Festung Stade ein standesgemäßes Soldatengrab zuteilgeworden war?
Die Suche begann in den Registern des Harsefelder Pfarramtes. Im Sterberegister der Kirchengemeinde Harsefeld aus dem Jahre 1799 fand sich schließlich unter dem Datum des 21. Juli folgender Eintrag: „Herr Johann Ludewig Georg von Walthausen, Obrister und Chef des 14. Infanterie Regiments, der Wilhelmine Caroline von Walthausen, geb. von der Lieth nachgelassener Ehemann, starb den 15. Juli an der Wassersucht. Alt 61 Jahre, 5 Tage. in der Stille beerdigt.“
Harsefeld war der schriftlichen Überlieferung zufolge im 18. Jahrhundert Wohnort mehrerer hannoverscher Offiziersfamilien. Viele der in der benachbarten Festung Stade stationierten Offiziere zogen offensichtlich das Leben in einer der umliegenden Landgemeinden dem der Enge, der von Wällen umgeben Stadt, vor.
Die Familie von Walthausen lebte mehrere Jahrzehnte in Harsefeld. Vater Johann Ludewig Otto von Walthausen, im Sterberegister ebenfalls ein „Obrist von der Königlichen Majestät von Großbritannien“ und Haudegen aus dem Siebenjährigen Krieg, starb am 18. Mai 1772 im Alter von 60 Jahren und wurde in der Kirche bestattet.
Verheiratet war er mit Eleonora von Rützhaupten, die 1763 als „Frau Obristin Eleonora von Walthausen“ erwähnt wird. Sohn Johann Ludewig Georg trat in die Fußstapfen seines Vaters und schlug ebenfalls eine erfolgreiche Militärlaufbahn ein.
Im Jahre 1770 heiratete er im Rang eines Hauptmannes die junge Johanne Margarethe von der Lieth, die nach der Geburt ihres ersten Kindes (30. Dezember 1770) am 6. Januar 1771 im Alter von 19 Jahren in Hameln starb. Die Gravur auf dem gefundenen Ring ist mit den obigen Angaben identisch.
Von Walthausen heiratete ein zweites Mal, wieder eine Angehörige der Familie von der Lieth: Wilhelmine Caroline, vielleicht eine Schwester der Verstorbenen.
Als Walthausens Mutter Eleonora 1791 in Harsefeld starb, stand er im Rang eines Majors und setzte durch, dass auch seine Mutter wie bereits zuvor sein Vater in der Kirche bestattet wurde. Für ihn selbst allerdings musste wenige Jahre später draußen auf dem Kirchhof eine Gruft gemauert werden. Denn die Kirche war 1799 bereits für weitere Begräbnisse gesperrt.
Als 62 Jahre später der neue Turm gebaut und ein Teil des Kirchhofs abgetragen wurde, ragte die Gruft aus dem Boden heraus. Sie wurde geöffnet und verfüllt. Möglicherweise haben die Arbeiter wertvoll erscheinenden Zierrat wie z.B. die Tafel mit den Lebensdaten des Verstorbenen und vielleicht auch sonstige auf dem Sarg liegende Militaria wie Rangabzeichen und Säbel entwendet. Den Toten selbst aber mochte niemand mehr antasten.
So blieben der Goldring und die wertvolle Silberspange unbemerkt. Die Gruft wurde bis zur Höhe der relevanten neuen Oberfläche abgetragen, verfüllt und schließlich vergessen.

Die Gruft konnte, wie so viele Befunde, nicht in die Platzgestaltung einbezogen werden und wurde verfüllt.